Fast jedem ist dieses Wort bekannt, aber was es genau bedeutet, verschwimmt doch bei vielen.
Der zweite Schritt soll dann auch erläutern, was es bedeutet in eine Tariqa (deutsche Schreibweise) einzutreten.
Tariqa ist ein arabisches Wort, kommt vom Verb taraqa und das bedeutet: „klopfen, pochen, hämmern, mit dem Hammer schlagen, schmieden, eindringen“. Das Substantiv Tariqa steht für „Art und Weise, Methode, Weg, Mittel, Glaubenssystem“ und schließlich „religiöse Bruderschaft, Derwischorden“.
Alle diese Begriffe können mit dem, was wir unter Tariqa verstehen, in Verbindung gebracht werden. Um Zugang zu einer Tariqa zu finden, muss der Suchende sich bemerkbar machen, das Hämmern und Klopfen drückt die Dringlichkeit seines Wunsches nach Aufnahme aus. Die Konfrontationen durch den Scheich kann manchmal so sein, als würde er mit einem Hammer bearbeitet. Schmieden ist ein arachisches Bild für einen Umwandlungsprozess. So wie er auch von Hz. Pir beschrieben ist in seinem Wort:
„Hamdim, yandim, pischdim,“
Das heisst: „Ich war roh, brannte und ward gegart.“
Der Schüler muss tief in die Sache eindringen, um schließlich sein Ziel zu erreichen. Dafür findet er in der Tariqa eine bestimmte Methode. Jede Gemeinschaft hat im Laufe der Jahrhunderte ihre eigene Art und Weise entwickelt. Sie ist, wie der Lehrer, das Mittel, um sich selbst zu finden.
Den Begriff Glaubenssystem würden wir hier jetzt nicht aufnehmen, denn Tariqa ist Erfahrungswissenschaft. Alles, was gelehrt wird, beruht auf Erfahrungen der Vorangegangenen und ist auch immer wieder reproduzierbar, wenn man die gleichen Mittel anwendet, sprich, wenn man z.B. den selben Zikr übt.
Tariqa bezeichnet auch einen Weg, schmaler als die Straße und hier gibt es eine Verbindung zu Scheria, dem religiösen Gesetz, das eigentlich „Straße zur Tränke“ heißt. Also Tariqa ist der schmale Weg, der von dieser Straße abzweigt. Alle Muslime gehen auf der breiten Straße zur Tränke, zu Gott, die Mitglieder einer Tariqa bewegen sich auf schmalerem und oft auch steinigerem Pfad zum Ziel. Ein Weg nützt nur, wenn er auch begangen wird, d.h. die Aktivität der Schüler, die den Weg gehen, lässt ihn erst lebendig werden.
Wir sagen ja oft: „Das ist mein Weg“ und meinen damit, das ist meine Art, bestimmte Dinge zu tun. Und so gibt es auch innerhalb der Turuq (Plural von Tariqa) bestimmte Arten, die Dinge zu tun. Wir kennen das unter dem Begriff Adâb.
Lasst Euch diese Tatsache ganz zu Bewusstsein kommen: die Tariqa ist nicht „mein eigener Weg“, sondern ich gehe den Weg, der von anderen bereits beschritten wurde und die Art, wie dieser Weg zu gehen ist, ist festgelegt. Tariqa hilft also nicht, „meinen eigenen Weg“ zu finden. Nicht die persönlichen Eigenarten sind gefragt, sondern durch das Ablegen der Eigenarten können wir uns selbst finden.
Kompliziert? Eigentlich dachten wir doch bis gerade, dass wir genau durch unsere Eigenarten uns selbst finden. Wie soll man sein Selbst finden, wenn man diese Eigenarten nicht entwickelt und pflegt?
Das hat damit zu tun, dass wir oft keine Klarheit darüber haben, was diese Eigenarten hervorgerufen hat. Viele unserer Eigenarten sind z.B. als Reaktionen auf Verletzungen entstanden. Diese Eigenarten kommen dann nicht aus unserem Wesen, sondern eigentlich aus einer zweiten Schicht, die wir uns als Schutzmantel gegen Verletzungen zugelegt haben. Wir können unser Wesen nicht erreichen, wenn wir die Verhaltensweisen, die auf der Schutzebene entstanden sind, weiterpflegen. Erst wenn wir sie weglassen, können wir erkennen, wozu sie uns dienen und vielleicht auch herausfinden, in welchem Zusammenhang sie entstanden sind. Wir wissen in der Regel nicht, welche unserer Verhaltensweisen aus unserem Wesen und welche aus Schutz- oder anderen Reakti-onsebenen kommt.
Deshalb ist es besser, wenn wir grundsätzlich davon ausgehen, dass unsere bisherigen Verhaltensweisen nicht tauglich sind, uns näher zu uns selbst zu bringen und dass es deshalb sinnvoll ist, sich an anderen Verhaltensweisen zu orientieren.
Diese Sache will gründlich bedacht sein. Überlegt euch genau, ob ihr diesen Erklärungen folgen könnt und was diese Sätze in euch auslösen.
Die Gemeinschaft ist hierarchisch organisiert. An der Spitze steht der Scheich, als Stellvertreter des Pir. Dies ist notwendig, damit der Einzelne einen verlässlichen Bezugspunkt hat. Wenn es darum geht, die persönlichen Eigenarten loszulassen, muss man sich auf die stattdessen angebotenen Verhaltensweisen auch verlassen können. Man muss darauf vertrauen können, dass alle Regeln dem Wohle des Einzelnen und der Gemeinschaft dienen und dass sie nicht aus dem zufälligen Wollen eines Einzelnen entstanden sind, sondern dass sie erprobt und bewährt sind in einer jahrhundertelangen Geschichte der Vorgänger.
Der Scheich repräsentiert diese Geschichte und Verlässlichkeit. Er öffnet die Tür zu einer Tradition der Lehrer und Schüler, in die wir eintreten können und mit der wir uns verbinden können.
Tariqa ist eine Gemeinschaft, die gemeinsam etwas schafft. Hier werden in wenigen Worten wichtige Zusammenhänge dargestellt. Gemeinsam etwas schaffen wollen, setzt ein gemeinsames Ziel voraus. Damit für jeden der optimale Lernrahmen gegeben ist, müssen die anderen ihn mitbauen. Wir lernen aus den Begegnungen mit den anderen. Wir lernen am besten in einer geschützten Umgebung. Damit dieser geschützte Raum entstehen kann, muss sich jeder entsprechend des Adab verhalten. Wenn sich alle nach dem Adab richten, entsteht eine liebevolle Umgebung, in der Gottes Gegenwart spürbar wird. Wer sich hier wie die sprichwörtliche Axt im Walde verhält, ruiniert mit Leichtigkeit, was die anderen aufgebaut haben.
Das, was man innerhalb der Tariqa gemeinsam schafft, ist also eine bestimmte Umgebung und Atmosphäre. Dazu gehört materielles und immaterielles.
Wie die Zellen oder Organe eines Körpers sind wir alle aufeinander angewiesen, damit der ganze Organismus gut funktionieren kann. Jeder muss seinen Platz ausfüllen und jeder muss nach dem gemeinsamen Ziel freiwillig streben. Es ist nicht so, dass es ein paar wenige für die anderen schön machen können. Selbst wenn sie wollten, ginge es nicht. Wir können uns die Tariqa wie ein Netz vorstellen. Jeder Knoten muss halten! Jeder sollte erfüllt sein von dem Wunsch nach persönlichem Wachstum und nach der Verwirklichung von Schönheit und Liebe. Jeder sollte sich um Aufrichigkeit und Hingabe bemühen und jeder sollte sich dessen bewusst sein, dass es ohne ihn nicht geht. Der Ort, an dem sich die Tariqa trifft oder versammelt, sollte ein Vorgeschmack aufs Paradies sein. Jedermanns und Jeder-fraus Achtsamkeit und Aufmerksamkeit wird gebraucht. Untereinander gilt das Prinzip der „Schönen Annahme“, d.h. wir bemühen uns grundsätzlich Gutes von einander zu denken, nicht zunächst jedem alles Schlechte zutrauen und davon ausgehen, dass der andere zum eigenen Ärger lebt, sondern immer im Bewusstsein halten, dass jeder zu jeder Zeit sein Bestes gibt. Vielleicht müssen wir manchmal länger darüber nachdenken, aber wenn wir uns Mühe geben, finden wir immer einen guten Grund für auch zunächst unverständliches Verhalten. Und wenn uns mal gar nichts einfallen will, können wir uns immer noch fragen, was es mit uns zu tun hat, dass uns gerade diese Sache ärgert.
Die Gemeinschaft der Tariqa baut gemeinsam an einem Platz, der die Liebe Gottes zu den Menschen widerspiegelt, der die Herzen weit macht und das Göttliche Licht in unserer Welt sichtbar werden lässt.
Wenn man Teil dieser Gemeinschaft werden möchte, kann man das in verschiedener Weise tun. Am Anfang ist man Gast und kann an den öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Man übernimmt noch keine Aufgaben und Verpflichtungen. Im Laufe der Zeit lernt man die für die Tariqa typischen Verhaltensweisen kennen und nach und nach beginnt man sie für sich selbst zu praktizieren, um herauszufinden, was man dadurch lernen kann.
Den Eintritt in die Tariqa nennt man „einen Bund nehmen“. Den Bund schließt man mit Gott, der Scheich ist der Mittler und ein menschliches Vorbild. Er ist das (Hilfs)-Mittel auf dem Weg zu sich selbst. Eigentlich ist dies kein neuer Bund, sondern nur die Erneuerung des Ur-Bundes zwischen den unerschaffenen Menschen und Gott (siehe Sure 7, Vers 172), lange vor der Materialisierung. Wir finden dazu weiterhin in der 48. Sure, al fath, im 10. Vers folgendes:
Diejenigen, welche dir den Treueid leisten, leisten gewiss den Treueid Allah: Die Hand Allahs ist über ihren Händen. Wer eidbrüchig wird, wird zu seinem eigenen Nachteil eidbrüchig; wer aber sein Versprechen gegenüber Allah hält, dem wird Er gewaltigen Lohn geben.
Dieser Vers bezieht sich ursprünglich auf die Begegnung des Propheten und seiner Gemeinde auf der Pilgerfahrt nach Mekka, mit den Mekkanern, die sie daran hindern wollten zur Ka’aba zu ziehen. Dabei kam es nicht zum Kampf, sondern zu einem historischen Friedensvertrag, der für die nächsten 10 Jahre gelten sollte. Genaueres dazu findet ihr in der Prophetenbiographie.
Für die Muslime war es schwer in diesem Fall darauf zu verzichten, sich zu wehren und sich den Zugang nach Mekka mit Gewalt zu verschaffen. Aber sie gehorchten dem Propheten trotzallem und zum Zeichen ihrer Ergebenheit erneuerten sie den Treubund mit ihm.
Dieses historische Ereignis gibt uns bis heute ein Beispiel für die Aufgabe des Schülers, wenn er seinem Scheich folgen will. Auch er wird immer wieder in Situationen kommen, wo etwas anderes von ihm verlangt wird, als was er selbst im Moment zu tun wünscht. So wie die Gefolgsleute des Propheten erst später den Sinn und Zweck verstanden, so geht es auch oft den Schülern des Weges. Gleichzeitig ist der Bund auch wie ein Friedensvertrag zwischen Gott und dem Menschen, denn er erreicht damit seinen inneren Frieden.
Einer Tariqa angehören zu wollen, heißt lernen wollen und dem Scheich zu vertrauen, dass er in jeder Situation weiß, was jetzt für den Lernprozess des Schülers am wichtigsten ist.
Wer in die Tariqa eintritt, wird zum Murid bzw. zur Murida. Dieses Wort ist vom Verb/der Wurzel rada abgeleitet und bedeutet „hin- und hergehen, suchen, forschen“ und auch „wollen“. Und so ist ein Murid einer, der etwas will, sucht und nach etwas forscht. Dasselbe gilt für die Murida.
Was suchen die Muriden? Efendi sagt immer, ein Murid ist kein Gottsucher, sondern einer, der sich selbst sucht, denn Gott ist ihm bereits näher als seine Halsschlagader. (Siehe Sure 50, Vers 16)
Auf dieser Suche erforschen sie sich selbst, beobachten und betrachten ihre eigenen Verhaltensweisen und Reaktionen. Meditationen führen sie in ihre Innenwelt und im Äußeren machen sie sich mit den Regeln der Hingabe an den Willen Gottes vertraut, in dem sie sich zunächst nur dem Lehrer vertrauend und zuversichtlich an ihre Aufgaben, wie z.B. die täglichen Gebete und das Fasten halten. Bis sie dann im Laufe der Zeit erfahren, welche Wirkungen das Einhalten dieser Regeln auf sie hat und die Regeln dadurch überwunden werden, indem sie zu einem Bedürfnis geworden sind.
Ihr Forschen besteht darin, zunächst den Anweisungen des Scheichs so genau wie möglich zu folgen und dann aufmerksam und wach zu beobachten, was sie während des und durch das Tun erfahren können und was sich im Laufe der Zeit verändert. Nach und nach wird das eigene Wesen sichtbar und mit der inneren Klarheit wächst die Erkenntnis über und die Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung und wir erfahren, wie wir Gott in uns begegnen können.
Zusammenfassung:
Die Tariqa ist eine Weggemeinschaft in der Tradition des Islam, in der jeder für sich freiwillig unter der Anleitung eines Lehrers am gemeinsamen Ziel der Selbstfindung und Gotteserkenntnis arbeitet.
O, die ihr glaubt, habt Ehrfurcht vor Gott und sucht euch das Mittel, das zu Ihm führt und bemüht euch auf Seinem Weg, vielleicht werdet ihr erfolgreich sein.
(Qur’an Sure 5, Vers 35)