Adâb – Die Verhaltensregeln der Muslime

Vortrag am 26.09.03 im Bildungszentrum der Stadt Nürnberg

Zunächst müssen wir uns der Definition einiger im Vortrag vorkommenden Fachausdrücke zuwenden, damit wir einander auch verstehen können.

Der erste Begriff ist aus dem Thema des Abends: Adâb.

Adâb, auch Edeb (arab. ادَب ) gesprochen, ist wie alle hier verwendeten Fachausdrücke, dem arabischen entnommen und bedeutet – feine Bildung, Wohlerzogenheit, Anstand, feine Sitte, Humanität. Der Plural dazu lautet âdâb (arab. آدَاب ) und bezeichnet das ganze Regelwerk von Verhaltensvorschriften und als al-âdâb werden die Guten Sitten im Allgemeinen bezeichnet. Dieses Wort wird von der Wurzel aduba (arab. ) abgeleitet und hat im 5. Stamm die Bedeutung von: sich bilden, nach oder durch etwas.

Der nächste Begriff, dem wir in diesem Zusammenhang begegnen, ist das Wort ahlaq (arab. ),

ahlaq ist der Plural von hulq bzw. huluq (arab. 9) und bezeichnet unter anderem die Charakterart eines Menschen, welche er durch die Erziehung etc. erhalten oder, besser gesagt, erreicht hat. Dieses Wort wird von der Wurzel halaqa (arab. K) abgeleitet und hat die Bedeutung von: schaffen, erschaffen, formen oder bilden. Im 5. Stamm hat es die Bedeutung von – „sich nach einem Vorbild formen oder wandeln“.

Ein weiterer Begriff, der für uns wichtig ist, ist das Wort fitra (arab. ), fitra ist die, dem Menschen von Gott mitgegebene Naturanlage, auf der geistigen Ebene dessen, was wir als rûh (arab. ) bezeichnen.

Und das letzte Wort ist das Wort istiqâma bzw. istiqâmet (arab.  – o), in unserem Zusammenhang hat es die Bedeutung von „gerade Richtung, Ausrichtung bzw. Rechtschaffenheit“.

Wenden wir uns nun der Bedeutung des Menschen bzw. seiner Aufgabe, die er auf diesem Planeten hat, zu. Zu einem heisst es im Qur’ân 51:56:

E

A lH oAgArjU_g_

„Und ich habe die Dschinn und Menschen nur dazu geschaffen, dass sie mir dienen.“

Die Sache mit den Dschinnen ist ein Thema für sich und bleibt hier unberücksichtigt. Wichtig ist zunächst die Aussage, dass wir leben um Gott zu dienen.

Welche Konsequenz bzw. Bedeutung dieses Dienen für uns als Menschen hat wollen wir nun näher betrachten.

Der Mensch wird im Qur’ân auch als:



oAgItAm_U_ggAi fI_g_Avq

als Nachfolger Gottes auf Erden bezeichnet (vergl. Sure 24/56). Es klingt im ersten Moment etwas eigenartig, dass der Mensch der Nachfolger Gottes auf Erden sein soll. Wie ist das zu verstehen?

In diesem Zusammenhang sind folgende Verse des Qur’ân‘s in der 2. Sure sehr bedeutend.

bK

6

6

,A_I^ rHgA vAffU

„Und als dein Herr zu den Engeln sprach: „ [Wahrlich] ich bin dabei, einen Nachfolger [oAgWtA] auf Erden zu erschaffen“! Da sprachen sie [die Engel]: „Willst du jemand erschaffen, der auf ihr Zwietracht säet und Blut vergießt, wir jedoch lobsingen dir und verehren dich ?“ Er [ALLAH] sagte: „ [Wahrlich] ich weiß, was ihr nicht wißt.“ (Vers: 2:30)

Und weiter heißt es in Vers 2:31:

bK

,A_uAggAlA uH+AlA_g_IslHxA 

„Und [nachdem Er ihn erschaffen hatte] so lehrte Er Adam [dem Menschen] die Namen aller [Dinge der Schöpfung] …“

In diesen beiden Versen ist ein Vorgang beschrieben, der unseren Daseinszweck als Menschen belegt.

Zunächst sagt Gott, dass Er beabsichtigt, ein Wesen zu erschaffen, welches Er als Nachfolger auf Erden einzusetzen gedenkt. Obwohl die Art dieses Wesens weder erläutert noch angesprochen wird, äußern die Engel, aufgrund ihres Wissens um das Kommende, ihr Bedenken gegenüber Gottes Plan und verweisen auf wesentliche Eigenschaften dieses künftigen Lebewesens und heben ihre eigenen Qualitäten hervor, in der Hoffnung Gott von Seinem Vorhaben abzubringen. Indem Gott jedoch sagt „[Wahrlich] ich weiß, was ihr nicht wißt“, bestätigt er die Befürchtungen der Engel und weist zugleich daraufhin, dass ihr Wissen um die zukünftigen Dinge von eingeschränkter Natur ist. Im nächsten Vers ist zu sehen, dass das Wesen, der Mensch, erschaffen wurde und Gott ihm die Namen aller Dinge lehrt und damit weist Er ihn in die Geheimnisse Seines Schaffens und Seiner Schöpfung ein. Weiter heisst es im gleichen Vers 2:31:

K

eUllA uAvAqAiUl uAgH_g_lAgHxI

„Hierauf legte Er sie [d.h. die Schöpfung] den Engeln vor und sagte: „Tut mir ihre Namen kund, wenn [anders] ihr die Wahrheit sagt!“

Daraufhin erwiderten die Engel (2:32):

D

rAg; sUfpHkA

„….Gepriesen seist Du! Wir haben kein Wissen außer dem, was du uns [vorher] vermittelt hast. [Wahrlich] Du bist der Wissende und der Weise.“

Dann wandte sich Gott an den Menschen und sprach (2:33):



rHgA dA_H+AlU AkfIxiUl fI_AslHXxIiIl

„…. o Mensch verkünde ihnen (d.h. den Engeln) das Wesen der Dinge!“

und weiter heißt es (2:33):

Kk

6

tA_gASllH AkfAxAiUl fI_AslHxIiIl rHgA A_gAl ArUg gA



„…und sobald er (der Mensch) es ihnen verkündet hatte, sagte Er: “Hatte Ich nicht gesagt, dass ich das Verborgene der Himmel und der Erde weiß, und dass Ich weiß, was ihr zum Ausdruck bringt, und was euch verborgen bleibt?“ im Vers 2:35 fordert Gott den Menschen mit folgenden Worten auf:

b6 8s‘ 

K ’ 

dH H+AlU_s



„…O Mensch! Verweile du und deine Gattin im Paradies, und eßt uneingeschränkt von seinen Früchten, wo ihr wollt! Aber naht euch nicht diesem Baum, sonst gehört ihr zu den Frevlern!“

Doch trotz der Mahnung Gottes unterlag der Mensch der Versuchung :

’ 

F7

tA_A.AggAiUlH_a_aAI



„Da veranlaßte sie der Satan, einen Fehltritt zu tun, wodurch sie des Paradieses verlustig gingen, und brachte sie so aus dem (paradiesischen) Zustand heraus, in dem sie sich befunden hatten. Und wir sagten: „Geht (vom Paradies) hinunter (auf die Erde)! Ihr seid (künftig) einander feind. Und ihr sollt auf der Erde (euren) Aufenthalt haben, und Nutznießung auf eine (beschränkte) Zeit.“ (2:36)

Hier ging der Mensch nun der Nähe zu sich selbst und Gottes verlustig und verlor den Zustand absoluter Glückseligkeit, und weiter lesen wir (2:37):

D

tA_jAgArrH xH+AlU lIk vAffIiI 

„.Hierauf nahm Adam von seinem Herrn Worte entgegen. Und Gott wandte sich ihm (gnädig) wieder zu. Er ist ja der sich Gnädig Zuwendende (tauwaab) und Barmherzige.“

Obwohl alles verloren scheint, gibt Gott dem Menschen doch wieder Hoffnung – Er lehrt ihn einige Worte:

7FpbK tA_jAgArrH xH+AlU lIk vAffIiI 

„.Hierauf nahm Adam von seinem Herrn Worte (der Ermahnung) entgegen.“

Doch das Wesentlichste enthalten die Worte fatâba ‚alaihi (E) „“Und Er wandte sich ihm wieder zu..“, der Vers endet mit der Ausage “…Er (Gott) ist der sich gnädig Zuwendende, der Erbarmungsvolle..“.

Das heißt, dass Gott sich dem Menschen, verzeihend und erbarmend zuwandte und die Schuld, die der Mensch durch seine Zuwiderhandlung auf sich geladen hatte, von ihm nahm. Wenn der Mensch Gott zuwider handelt, entfernt er sich von seinem eigenen Wesen, wie es im Qur’ân heißt, er handelt gegen sich selbst.

Dadurch, das Gott sich dem Menschen zuwandte, zeigt Er ihm Seine Liebe, d. h. Zuwendung, und eröffnet ihm mit Seinen „Worten“ den Weg, diese verlorene „absolute Glückseligkeit“, des Verweilens in der Gegenwart Gottes, wieder zu erlangen. Und dieser Weg ist die Liebe, d. h. der Weg der Hinwendung zu Gott.

Im Qur’ân Sure 95 Vers 4-6(3-5) lesen wir folgendes:

7F

K

gArA+ oAgArkH_g_IksHkA tD ApsAkI jAr,DlI

eUllA vA+A+kH_iU AstAgA sHtIgDk(A)

„.Wir haben doch (seinerzeit) den Menschen in bester Form geschaffen. Hierauf haben wir ihn (aber) in die niedrigste Tiefe zurückgebracht (thumma radadnâhu asfala sâfiliena), ausgenommen diejenigen, die glauben und tun, was recht ist. Die haben (dereinst) Lohn zu erwarten, der ihnen (dann) nicht als Wohltat vorgehalten wird (ihnen vielmehr von Rechts wegen zusteht) (adschrun ghairu mamnuunin).“

Das bedeutet zum einen, dass Gott den Menschen als seinen Nachfolger auf Erden in geistiger Vollkommenheit und mit dem notwendigen Wissen, um hier seiner Aufgabe gerecht zu werden, erschaffen und ausgestattet hat und zum anderen, dass er sich im Zustand des Niedrigsten der Niedrigen dieser Gaben nicht mehr bewusst ist.

Nun kommen wir zum nächsten Punkt: „Wer oder was ist der Mensch?“

Wir haben festgestellt, dass Gott uns so geschaffen hat, dass wir alles haben, um der Aufgabe Seiner Nachfolge gerecht zu werden. Diese Fähigkeiten sind, wie schon gesagt, in uns, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, was trennt uns davon?

Unser eigenes Wollen kann uns von diesen Fähigkeiten trennen oder uns dahin führen.

Wir sind Zwitterwesen:

a – Tiermensch – Körper

b – Geistmensch – rûh (Urmatrix)

Auf Grund dieser beiden Komponenten unseres Wesens, gliedert sich unser Bewusstsein ebenfalls in Körper-Bewusstsein und „rûh“ -Bewusstsein“.

Das Körperbewusstsein wird schon im Moment der Zeugung, d.h. im Moment der Zellverschmelzung angelegt, es folgt nur einem Muster „Ich will (über-)leben“, es ist der Lebens- bzw. Überlebenswille schlechthin. Es ist die Kraft, die uns das ganze Leben lang inne ist und die, auf jedwedige, auch scheinbare, Bedrohung der körperlichen Existenz auf das Heftigste reagiert.

Dem rûh, welches wir hier als Urmatrix unserer feinstofflichen, geistigen Existenz, bezeichnen wollen, entspringt das „rûh-Bewusstsein“. Es ist der Teil, der Sitz, dieses uns seit Adam gegebenem absoluten und umfassenden Wissens. Über das Wesen dessen, was wir rûh nennen, gibt es nur sehr wenig zu sagen, im Qur’ân Sure 17, Vers 85 heißt es dazu:

D

6G

,A dAsxAg;kA_

,A lH ;jDjUl lIkA_g_uIglI IgG rAgDgAk

„(O Muhammad) man fragt dich nach dem vEp (Geist). Sag: Das vEp ist (vom) Befehl von meinem Herrn. Aber ihr habt nur wenig Wissen erhalten.“

Der Befehl ist das Wort Kun SEI – dazu heißt es im Qur’ân 36:82:

8 K‘ 

IkkAlHAlvU_iU I^H IvH+A aAIxAk Ak dAr;gA gAiU 

„Bei Ihm ist es so: Wenn Er etwas will, sagt Er dazu nur: sei!, dann ist es.“

Aus der Interaktion von Körper und rûh entsteht das nafs, das Selbst des Menschen, in dem sich beide Bewusstseinskräfte befinden und den Menschen, je nachdem welcher Teil mehr zur Geltung kommt, entsprechend beeinflussen. Die Entwicklung des Selbstes, und damit das Erwachen des Menschen, findet in sieben Bewusstseinsstufen statt. Jeder dieser Bewusstseinsstufen werden verschiedene Eigenschaften zugeordnet, an denen sich das Leben orientiert bzw. von denen es beeinflusst wird.

Von der animal verhafteten Ebene des Selbst, nafs-i ammara genannt, ausgehend, setzt sich die Entwicklung in die höheren Stufen fest. Auf dieser ersten Stufe oder Ebene ist das Bewusstsein des Menschen auf die rein körperlichen Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Kleidung, Wohlleben und Sexualität und den damit einhergehenden Gedanken und Handlungen, um diese Bedürfnisse zu befriedigen, ausgerichtet.

Vom Propheten Muhammad (s.a.w.s.) wird folgender Ausspruch, zur Entwicklung des Menschen, überliefert, er sagte:

„Von der Geburt bis zum 7. Lebensjahr ist das Kind für die Eltern gleich einem Blumenstrauss, dann ist es bis zum 14. Lebensjahr der Diener der Eltern und danach ihr Freund oder Feind.“

Was bedeutet das? Dies bedeutet, das sich der Mensch in seiner Entwicklung in drei Zeitabschnitten bewegt.

0.-7. Lebensjahr – In dieser Zeit entwickelt der Mensch sein emotionales Bewusstsein

7.-14. Lebensjahr – In dieser Zeit entwickelt der Mensch sein rationales Bewusstsein

14.-21. Lebensjahr – In dieser Zeit werden die beiden Ebenen miteinander verflochten und die Persöhnlichkeit des Menschen ist je nach Bildung und Erziehung weitgehend abgeschlossen.

Diese Entwicklungsstufen des Menschen sind grundsätzlicher Natur, das religiöse Bekenntnis ist dazu nicht notwendig. Sie erfordern jedoch zur geistigen Reife bzw. einer menschlichen Entwicklung gewisse Verhaltensmassnahmen, die dem Menschen Orientierung geben und ihn in eine Gemeinschaft hineinwachsen lassen.

Wir können also davon ausgehen, dass gewisse Verhaltengrundsätze, gewachsen aus der Erfahrung und Tradition zur Vermittlung ethisch-moralischer Werte, grundsätzlich zur menschlich-gesellschaftlichen Entwicklung unabdingbar sind.

Ohne diese Werte vermittelnden Verhaltensstrukturen fällt der Mensch in den Zustand geistiger Verwahrlosung und Verrohung.

Wie wir eingangs erfahren haben, ist der Mensch erschaffen worden, um Gott zu dienen als Sein Nachfolger auf Erden.

Bedenken wir die Umstände der Erschaffung des Menschen, so kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass er, und damit ein jeder von uns, die Verantwortung für diesen Planeten mit seiner Fauna und Flora, von der wir als Menschen ebenso ein Teil sind, von Gott anvertraut bekommen haben. Es geht nun seit jahrtausenden darum, dem Menschen Anleitungen zu geben, mittels derer er sich in den Zustand versetzen kann, um dieser gewaltigen Aufgabe gerecht zu werden.

Anleitungen dazu stellen die Offenbarungen und der Islam als letzte, von muslimischer Sicht aus gesehen, dar. Hier gibt uns Gott sozusagen einen Verhaltenskatalog, mittels dem wir als Individium die Nähe zu Gott und letztendlich die Einheit mit Ihm wieder herstellen können. Die Einheit mit Gott herzustellen bedeutet, dass der Mensch sich vorbehaltlos in seinem Verhalten am alles umfassenden Willen Gottes, wie er zum Beispiel für uns Muslime im Qur’ân zum Ausdruck kommt, orientiert.

Im Qur’ân können wir folgendes lesen:



6

dH_fAkD uA+AlA IllH dHjIdAkkA



Ihr Kinder Adams! Wann immer Gesandte aus euren eigenen Reihen zu euch kommen, um euch meine Zeichen auszurichten, brauchen diejenigen, die gottesfürchtig sind und tun, was recht ist (aslaha), keine Angst zu haben, und sie müssen nicht bekümmert sein. (7:35)

Der Prophet Muhammad (s.a.w.s.) ist für uns Muslime das lebendige Beispiel für die Qualitäten, die der Mensch erreichen kann, wenn er den im Qur’ân enthaltenen Anweisungen folgt, und er sagte von sich, dass Gott ihm mittels des Qur’âns seine menschliche Größe (AogAr) gegeben hat.

Wir haben also nicht nur ein Buch, eine Offenbarung, sondern ein lebendiges Beispiel für ein Verhalten, wie es durch den Qur’ân gefordert und gefördert wird. Für alle Bereiche des Lebens ist er ein Vorbild im Umgang mit uns selbst, unseren Mitmenschen und der gesamten Schöpfung. Hier ins Detail gehen zu wollen, würde den Rahmen dieses Vortrages sprengen.

In der Person des Propheten kommt für uns Muslime die Barmherzigkeit, Liebe und Zuwendung Gottes zum Ausdruck, weil er in seiner Person die göttliche Barmherzigkeit verkörpert. Gelebte Barmherzigkeit am Beispiel des Propheten, hat jedoch keinen Platz für Terror und Gewalttätigkeit.

Islam bedeutet Hingabe oder Frieden machen. Doch bevor wir Frieden mit der Welt, mit unseren Mitmenschen machen können, müssen wir Frieden mit uns selbst machen. Uns dahin zu führen ist das grundsätzliche Anliegen einer jeden Religion.

Dieses Frieden mit uns selbst machen, gelingt jedoch nur, wenn wir uns in unserem Verhalten an das Beispiel der Propheten im Allgemeinen und an das unseres Propheten Muhammad (s.a.w.s.) im Besonderen, halten und uns mittels der Orientierung am Qur’ân formen, strukturieren, um so an unsere Fitra, d.h. unser allumfassendes Gottesbewusstsein zu gelangen.

Wenn wir uns betrachten, stellen wir fest, in welchem Ausmaße wir durch die Art und Weise unseres Handelns von uns und unseren Fähigkeiten getrennt sind. Wenn unser Handeln an den Bedürfnissen des Körpers ausgerichtet ist, führt der Weg eher in die Trennung, wenn unser Handeln an den Bedürfnissen unseres rûh ausgerichtet ist, führt dies zu der uns innewohnenden Kraft.

Allerdings ist es nicht so einfach, dass man sagen könnte, wenn wir unserem Körper und seinen Bedürfnissen folgen, verlieren wir die Verbindung zu Gott. Auch auf dieser Ebene können wir Gott nahe sein, es darf nur keine Dominanz der körperlichen Bedürfnisse herrschen. Grundsätzlich kann das Wollen und Handeln den Menschen Gott näher bringen oder ihn von Ihm fernhalten, es hängt immer von der inneren Ausrichtung ab.

Wir sollen uns über unsere wahre geistige Natur klar werden, damit wir uns selbst die Antwort auf die Frage: „Mensch, wo bist du?“ geben können. In allen Dingen des täglichen Lebens ist diese Frage verborgen: „Mensch, wo bist du?“, auch beim Gebet oder beim Fasten: „Mensch, wo bist du?“

Diese Frage stammt von Gott, Er drückt damit Seine Liebe zu den Menschen aus. Wenn wir von Gott sprechen, sollen wir uns bewusst sein, dass Gott nicht der liebe Gott, sondern der liebende Gott ist, d. h. Gott neigt sich dem Menschen zu und der Mensch wendet sich zu Ihm hin.

Und mit dieser Frage kann uns bewusst werden, dass Er will, dass wir uns und damit Ihm zugewendet leben, zugewendet Ihm und Seiner ganzen Schöpfung.

Wir können sogar sagen, dass die Frage: „Mensch, wo bist du?“, die Frage unserer menschlichseelischen Existenz ist. Und dass allen Offenbarungen diese Frage zugrunde liegt, und daher in ihnen, d. h. den Offenbarungen, die Möglichkeiten zu ihrer Beantwortung in unterschiedlichster Form enthalten sind.

Wie können wir auf diese Frage antworten? Indem wir uns nicht verstecken und indem wir das tun, was Er von uns fordert. Das sei am Beispiel des Gebetes erläutert: Gott bedarf unserer Gebete nicht, Er ist und hat alles. Das Gebet ist vielmehr eine Verhaltensmöglichkeit, in der wir uns Gott nähern, indem wir uns selbst nähern. Das Gebet ist ein Reinigungsprozess, dem wir uns unterwerfen und man erinnere sich an die Antwort des Propheten auf die Frage, warum wir beten sollen. „Wenn du dir vorstellst, du lebst an einem Fluss und badest dich darin fünfmal täglich, könntest du dann noch schmutzig sein? Und was das Bad für den Körper, das ist das Gebet für die Seele.“

So heißt es auch im Qur’ân, dass Gott die sich Reinigenden liebt, das heißt, Er neigt sich ihnen zu.

 

Wozu Adâb?

Was uns von Gott trennt, hat einen bestimmten Namen: es sind die Schleier, die Purdah, die Abtrennung. Diese Schleier sind in unserem eigenen Inneren, sie sind die Wünsche und Vorstellungen, die unserer eigentlichen Natur zuwiderlaufen. Sie zu lüften ist Selbsterkenntnis, denn Gotteserkenntnis setzt Selbsterkenntnis voraus und der Adâb, die Verhaltensweisen entsprechend dem Vorbild unseres Propheten, ist ein Mittel, um diese Schleier zu heben, denn er dient der Selbsterkenntnis.

Es ist auch eine Frage unserer Lebensumstände, der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben, ob diese Schleier verstärkt oder verringert werden. Um nur einen Punkt herauszugreifen: in einer Umgebung, die die geistige Entwicklung positiv beurteilt und unterstützt, bleibt die Verbindung zu Gott offener, als z.B. in einer Umgebung, in der die geistige Realität des Menschen geleugnet wird, wie es im Westen weitgehend der Fall ist.

Der Adâb ist eine Möglichkeit für den Menschen, seine Aufmerksamkeit von sich zu lösen, um sich dann selbst besser wahrnehmen zu können. Aufmerksamsein: z.B. aufstehen, wenn jemand den Raum betritt, d.h. wachsein für das, was passiert, die Achtung empfinden, für das, wofür die Handlungsweise des Propheten steht, sich daran erinnern, was das ist, das uns trägt.

Bildlich gesprochen, ist der Adâb wie ein Plüschkissen mit Troddeln, auf dem wir durch das Leben getragen werden. Die Troddeln stehen für die Tradition, an die wir anknüpfen und in die wir uns stellen, wenn wir uns nach dem Adâb richten.

Wie entstehen Traditionen? Erkennen wir noch ihren Sinn, sind sie lebendig für uns? Sie sollen uns nicht erwürgen, sondern etwas in uns bewirken.

Der Adâb darf mit seinen Verhaltenweisen und -regeln jedoch auch nicht zur achtlosen Gewohnheit werden, er soll ein „Stein des Denk-Anstoßes“ bleiben, damit wir im Bewusstsein behalten, dass:

– wir nie alleine sind,

– wir als Teil eines Ganzen leben,

– wir unser Ich nicht so wichtig nehmen und ihm nicht viel Aufmerksamkeit geben,

– wir den Respekt vor einander nicht verlieren.

Wenn wir jetzt eine kurze Definition für Tradition finden sollten, könnten wir sagen, Tradition ist das, was einen trägt und wir bewahren das was uns trägt, und haben damit ein ganzes Schlüsselbund, das uns die Türen unseres Wesens öffnen kann.

lâ ilaha illâ-llâh – es gibt keinen Gott außer Gott, das ist die Bedingung für das Dienen. Das bedeutet, dass wir klar erkennen müssen, dass es keine andere Macht außer Gott gibt, dass wir niemand dienen, außer Ihm und dass wir das in freiwilliger Hingabe tun, weil Er unser Herr und größer ist, als alles, was wir uns denken und vorstellen können.

Wir bemerken, dass das Dienen nicht immer leicht ist. Besondere Situationen, in denen wir unter Stress sind, können uns ganz leicht alles vergessen lassen, was wir im ruhigen Zustand durchaus im Bewusstsein haben.

Kommen wir wieder auf Alltagssituationen zu sprechen, wenn wir im Umgang mit anderen Menschen Mühe haben, uns an den Adâb zu halten. Wie kann man sich verhalten, wenn man jemand freundlich anspricht und dann aber eine abweisende Antwort bekommt? Der erste Schritt ist, sich über den Zustand des Gegenübers klar zu werden. Offensichtlich befindet er sich in einer Abwehrhaltung, aus Gründen, die wir nicht kennen, die aber unabhängig von uns sind. Es gibt zwei Begriffe Qabt und Bast, die die innere Enge oder Weite eines Menschen beschreiben. Und wer sich im Zustand des Qabt befindet, tut sich schwer damit, sich für einen Anderen zu öffnen.

Im Alltag ist ein zweiter Schritt notwendig, wenn wir uns auf eine negative Reaktion klar machen, in welchen Zustand wir selbst durch die Zurückweisung geraten. Gerade in solchen Situationen müssen wir uns bemühen, klar zu bleiben und uns nicht anstecken zu lassen von der Stimmung der Anderen.

Wenn wir das bisher Gesagte zusammenfassen, können wir drei Fragen formulieren, mit deren Hilfe wir zu jeder Minute Klarheit über uns gewinnen können:

– wo bist du?

– was bist du?

– wer bist du?

Kurz zusammengefasst heisst es – die rechte Handlungsweise zur rechten Zeit am rechten Ort.

Und hier kommen wir zu einem weiteren Aspekt dessen, was wir AdHb bzw. Edeb nennen. Im Türkischen stehen die arabischen Buchstaben mit denen dieses Wort geschrieben wird für:

e – elden – von den Händen

d – dilden – von der Zunge

b – benlikten – von der Ichhaftigkeit.

Das heisst, dass wenn wir dem Adâb folgen, wir uns in jedem Augenblick unserer Handlungen, unserer Sprache und unseres Verhaltens bewusst sein sollten.

Respekt ist in diesem Zusammenhang ein Schlüsselbegriff. Die Quelle jeden Respekts ist der Respekt, den wir vor uns selbst haben. Eine andere Quelle kann das Vertrauen sein, dass Gott in uns alle setzte, als er den Menschen zu Seinem Nachfolger auf Erden machte. Dabei dürfen wir uns nicht von oberflächlicher Wahrnehmung unserer Mitmenschen irritieren lassen: alle Menschen zusammen sind wie ein Mosaik zu verstehen, jeder an seinem Platz ist wichtig. Jeder ist mit seinem Handeln und Denken ein Teil des Mosaiks Gottes, der dieses Mosaik um die ganze Welt legt.

Um frei handeln zu können, üben wir uns in Bedingungslosigkeit in der inneren Haltung: wir tun, um zu tun und nicht um zu ernten. Menschliches Tun ist nicht wie Karotten, aus deren Samen immer wieder nur Karotten hervor gehen. Wenn der Mensch sein Selbst aussäet, weiß er nicht, was daraus wächst.

Durch die Einhaltung der Regeln des Adâbs wird ein Licht angezündet und man sieht was ist, nicht was sein sollte oder was man sich wünscht. Man erkennt sich in seinem ganzen Sein und kann dann dem Leben gelassen entgegenblicken.

Jeder hatte wohl schon mal mindestens eine Ahnung von der umfassenden Wirklichkeit, man geht dann aber oft auf diesem Wege nicht weiter und man ist schließlich wie die Fische, die das Wasser suchen. Man sucht Gott und weiß gar nicht, dass man ohne Ihn nicht leben kann.

Der Adâb hilft bei der vollen „Beleuchtung“ des Selbst.

Der Adâb ist das Mittel, die „Schleier“ zu lüften. Die Hinwendung, die im Leben nach dem Adâb-Prinzip liegt, bringt die vollkommene Sicherheit, denn die wichtigste Beziehung: „Du bist mein Herr und ich bin Dein Diener“, ist geklärt.

Was beinhaltet der Adâb? Die Antwort ist klar und einfach, etwas, das uns hilft, uns von uns selbst zu lösen und gibt uns eine klare Ausrichtung, istiqâma genannt, auf dem Weg von Gott zu Gott.

Als Beispiel sei hier die Regel, rückwärts aus dem Raum zu gehen, herangenommen.

Warum machen wir es? Weil es der Prophet getan hat? Der Prophet lehrte seinen Zeitgenossen in allen Lebenslagen die rechte Art des Benehmens. Manchmal brachte er bestehende Traditionen in die Form des Islam, manchmal legte er neue Verhaltensweisen fest, wie z. B. beim Gebet, dass ja vorher so nicht praktiziert wurde. Bestimmte Anstandsregeln wurden übernommen, wie z. B. dass es äußerst unhöflich ist, wenn man einem Anderen den Rücken zukehrt und auch jemand die Fußsohlen entgegenzustrecken, ist verpönt.

Wenn wir heute in manchen Situationen auch anders empfinden, so bemühen wir uns doch, den Regeln des Adâbs gerecht zu werden. Der Wert liegt für uns dann in erster Linie in dem Gehorsam, den wir üben. Wieso sind Gehorsamsübungen so wichtig? Gehorsam kommt von hören, hinhören anstatt selbst zu sprechen. Gehorsam bedeutet sich fügen und mit den anderen eine bestimmte Gemeinschaft bilden. Gehorsam und Vertrauen gehören zusammen. Man kann nur gehorchen, wenn man auch vertrauen kann, dass man nicht missbraucht wird. Dann kann der Gehorsam die Tür zur inneren Erfahrung öffnen, denn wir folgen nicht mehr dem eigenen kleinen Willen, sondern einem größeren.

Gehorsam ist für viele ein schwieriges Thema, gerade deshalb darf man ihm nicht aus dem Wege gehen, sondern sollte genau hinschauen und sich damit auseinandersetzen. Wie sind meine Reaktionen auf Gehorsam? Dieser Bereich sollte geklärt sein, bevor man mit dem Einüben des Adâb beginnt.

Mangelnder oder widerstrebender Gehorsam kann einen von der Wahrnehmung der inneren Abläufe abhalten und so das Lernen erschweren. Außerdem kann es einen dazu verführen, die Regeln nur so ungefähr einzuhalten und auch damit schmälern wir uns den Nutzen, der in diesen Übungen liegt.

Einfache Handlungen bekommen eine Tiefendimension, wenn man sie bewusst vollzieht, wenn man sie erlebt. Sie können uns nähren und sättigen. „Erleben“, umsetzen kann aber jeder nur für sich, denn wir können keinen anderen die Dinge so erleben lassen, wie wir sie selbst wahrnehmen. Den Geschmack von Honig kann man nicht erklären, man kann ihn nur selbst kosten und dann weiß man, wie Honig schmeckt.

Bei der Beachtung des Adâbs gilt dieselbe Grundregel wie für alles andere: „Strebe auf meinem Weg, wie weit es dir möglich ist und du wirst der Gnade Gottes teilhaftig werden.“ Das sind die Worte unseres Propheten zu Mu’adh ibn Dschebl, als der an seinen Möglichkeiten zweifelte, dem Willen Gottes gut genug dienen zu können.

Im Zusammenhang mit dem Adâb sind die Überlieferungen des Propheten (Sunnah) wichtig für uns, denn Sunnah und Adab gehören zusammen, bzw. der AdHb ist die Grundlage der Sunnah. Deshalb ist es auch wesentlich, das Wahre von dem Falschen unterscheiden zu können. Hier sei noch erwähnt, dass der Qur’ân auch als kitâb-ul-furqân, d.h. „Buch der Unterscheidung“ bezeichnet wird.

Wenn wir dem Adâb folgen, versuchen wir, so zu handeln, wie es der Prophet getan hat. Auch das ist ein Beispiel, wie man über die Nachahmung der äußeren Handlung sich dem Zustand des Vorbildes anzunähern versucht. Bei allem dürfen wir nicht vergessen, der Adâb ist ein Hilfsmittel für uns, keine Kette, die uns behindern soll.

Es sind nicht nur Verhaltensregeln, sondern wir können schmecken, was an Weisheit darin steckt. Der Adâb hilft den Blick dafür zu schärfen, für das, was als Geschenk Gottes in jeder Situation steckt. Jeder Augenblick ist die Summe unseres bisher geführten Lebens und so können wir von jedem Augenblick aus unser Leben „durchleuchten“.

Der Adâb ist das Licht, mit dem wir unser Sein erleuchten, für uns erkennbar machen, wer wir sind.

Wenn wir unser Handeln nach dem richten, was wir erkennen, werden wir auch für die anderen erkennbar, ohne große Worte.

Alle Regeln des Adâb dienen der Suche nach Erkenntnis, die dann in Handlung umgesetzt werden soll.

Die Erfahrung allein genügt nicht, die Umsetzung in Handlung muss erfolgen. Die Projektionsflächen, die durch die Übungen entstehen, verschwinden wieder, wenn wir sie nicht nützen.

Was hindert, was macht es so schwer die Erfahrung in Handlung umzusetzen?

Das hat mit unserem menschlichen Wesen zu tun, wir sind, wie gesagt, Zwitter aus Körper und rûh.

Das Körperbewusstsein wirkt im Menschen vom ersten Augenblick an. Im Mutterleib ist das relativ problemlos, weil es da der Entwicklungsstufe entspricht. Das Neugeborene braucht dann die Zuneigung der Eltern, weil dadurch Lebenssicherheit vermittelt wird. Dies schlägt sich auch körperlich nieder: man hat z.B. herausgefunden, dass das Immunsystem des Säuglings sich besser entwickelt, wenn er in emotionaler Geborgenheit aufwächst. Es hängt von den Erfahrungen des Kindes ab, mit wieviel Lebenssicherheit es heranwächst. Es ist nicht nur die Beziehung zwischen Eltern und Kind, auch äußere Bedingungen können die Entwicklung der Lebenssicherheit beeinflussen.

Keiner von uns ist unbelastet und damit vollkommen sicher und deshalb wehren wir uns gegen Verhaltensänderungen, die immer zunächst mehr Unsicherheit mit sich bringen. Wir können uns selbst hilfreich sein, wenn wir friedlich und harmonisch auf das Körperbewusstsein eingehen und daran erinnern, dass es auf „Samtkissen“ getragen und vom vEp unterstützt und nicht bedroht wird.

So wie es ein physikalisches Trägheitsgesetz gibt, kennen wir auch ein geistiges Trägheitsgesetz. Die Entwicklung läuft eher in eine einmal eingeschlagene Richtung weiter, als dass man Änderungen vollziehen kann.

So gibt es eine Geschichte vom missratenen Sohn:

Ein Mann war sehr unglücklich über seinen einzigen Sohn. Anstatt strebsam und tugendhaft, wie er selbst, sein Leben in die Hand zu nehmen, lebte er in den Tag hinein, ließ sich vom Vater aushalten und verbrachte seine Zeit mit Trinken und Spielen. Der Vater wusste sich schließlich keinen Rat mehr und fragte seinen Freund, was er noch tun könnte, um seinen Sohn auf den rechten Weg zu bringen. Der sagte: „Das ist doch ganz einfach, du bist reich genug, die klügsten und tugendhaftesten Männer für ein paar Tage zu dir einzuladen. Bitte sie, sich alle zusammen mit deinem Sohn in ein Zimmer sperren zu lassen, so dass er keine Gelegenheit hat, sich abzulenken und mit niemand außer den Weisen sprechen kann. Du wirst sehen, in kurzer Zeit wird er wie sie geworden sein.“

Dem Vater gefiel dieser Ratschlag und er ließ überall bekannt machen, dass er die klügsten und tugendhaftesten Männer zu sich einladen wollte, um seinem Sohn auf den rechten Weg zu helfen. Sie sollten auch gut entlohnt werden. Und sie kamen, alle aus der Stadt und der näheren Umgebung und waren bereit sich für eine Woche mit dem Sohne des Hauses einschließen zu lassen, damit er auf andere Gedanken komme.

Alles war vorbereitet, die Männer und der Jüngling gingen in die abgeschiedenen Räume und der Vater drehte selbst den Schlüssel um. Auch wenn es ihn viel gekostet hatte, freute er sich doch sehr, bald einen guten Sohn zu haben. Nach einer Woche wurden die Räume wieder geöffnet und der Vater erschrak: die gestandenen Männer saßen mit seinem Sohn am Tisch, spielten Karten, sangen unanständige Lieder, labten sich an Wein und vielen anderen Köstlichkeiten. Sie alle waren dem Beispiel des Sohnes gefolgt.

Damit soll noch einmal illustriert werden, dass wir in der Regel eher den leichteren Weg wählen, als die Anstrengung der inneren Entwicklung auf uns zu nehmen. Ohne Mühe und Disziplin können wir auf dem inneren Weg nicht viel erreichen. Und wir brauchen einen wirklich guten Grund, um uns dem auszusetzen. Die Begegnung des Menschen mit seinen Mitmenschen und mit sich selbst ist von vielerlei Prüfungen begleitet und ohne einen starken Wunsch nach Liebe und Harmonie, kommen wir auf diesem Weg nicht sehr weit.

Der Adâb beinhaltet auch den Umgang mit Dingen. Nicht nur die belebte, auch die unbelebte Umgebung gehört der Schöpfung Gottes an und wir üben uns in Dankbarkeit, wenn wir die Dinge unseres Alltages benutzen. Die Mevlevî-Derwische zum Beispiel, drücken diese Dankbarkeit damit aus, dass sie alles, was sie in die Hände nehmen, mit den Lippen berühren. Wenn das bei verschiedenen Gegenständen nicht direkt möglich ist, berühren sie den Zeigefinger ihrer Hand, die den Gegenstand hält, mit den Lippen. Wie wir mit den Dingen in unserem Umfeld umgehen, lässt einen Rückschluss auf unseren Zustand zu.

Auch im Umgang mit der Sprache ist der Adâb wichtig.

Die erste Regel lautet: überlegt sprechen, nicht einfach plappern, eher weniger als mehr reden. Aber auch dabei im Kopf behalten: geistige Entwicklung ist kein Leistungssport und das Ziel ist das Sein, es geht nicht um gut- oder schlechtsein.

Der Adâb kann auch wie ein Dach gesehen werden, das uns vor dem Regen schützen kann.

Sprache besteht nicht nur aus Worten, sondern auch aus Tonfall und Lautstärke. Auch die Wortwahl bestimmt die Wirkung: eine Rede ohne Verzierung ist wie ein Sofa ohne Kissen.

Zeitgeist und Kultur schlagen sich in der Sprache nieder, das Denken bestimmt die Sprache un umgekehrt. In unserer Zeit hört man vielerorts eine Vereinfachung der Sprache und eine Durchmischung mit falsch und richtig gebrauchten Anglismen. Auch im Deutschen verflachen einige Ausdrucksformen, man denke nur an die Aktion „Rettet den Genitiv“. Entsprechend der zunehmenden geistigen Verwahrlosung findet auch eine Veränderung in der Sprache statt.

Innerhalb der Turuq, das heißt den islamischen „Ordensgemeinschaften“, besonders bei den Mevlevis, war und ist der Umgang mit der Sprache sehr sorgfältig.

Bestimmte Ausdrücke, die dem Wesen der Derwische unangemessen sind, wurden vollständig vermieden. So sagte z.B. niemand: „Schließe die Tür!“, stattdessen sagte man: „Bedecke die Tür.“

Dabei sollte daran erinnert werden, dass der Mensch nicht das Recht hat, etwas vor einem anderen zu verschließen und dass keiner ausgegrenzt werden sollte. Der bewusste Gebrauch der Sprache schult unser Denken und Wahrnehmen.

Wenn der Adâb das Mittel ist, das die Schleier zwischen dem Menschen und Gott aufheben kann, dann können wir uns nicht nur auf einen bestimmten Ort beschränken, allerdings müssen wir unterscheiden, mit welchem Verhalten wir unser Umfeld nur verwirren würden und welches Verhalten in jeder Situation hilfreich sein kann. Bestimmte Äußerlichkeiten, die in erster Linie der Aufmerksamkeitsschulung dienen, sind vielleicht nicht überall angebracht, aber die innere Haltung der Zugewandtheit z.B. kann immer und überall nützlich und sinnvoll sein.

Wir dürfen nichts von uns erwarten, auch nicht, dass wir schlagartig alle uns bekannten Regeln einhalten können. Wenn wir den Geist des Adâbs verstanden haben, dann hilft uns auch die Umsetzung nur einer bestimmten Sache. Man sucht sich einen Punkt aus, den man verinnerlichen kann und wenn das geschehen ist, wendet man sich dem nächsten zu. Gott bemisst uns nicht nach unserem Können, sondern nach unserem Streben.

Alles was wir auf der Grundlage des Adâb tun, schafft Projektionsflächen, auf dem wir den Schatz erkennen können, der in unserem Inneren liegt. Und dennoch, kein Erkennen bringt Früchte, wenn wir dem Erkannten nicht entsprechende Handlungen folgen lassen.

Der Islam ist die Grundlage unseres Lebensweges, er beruht auf fünf Dingen, den Übungen und Verhaltensweisen, die uns auf dem Weg helfen. Wie schon zuvor gesagt, bedeutet Islam Ergebung oder Hingabe. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es das, was wir heute als Religion oder Lebensweise Islam kennen, dieses ausgefeilte Lehrgebäude, zu Lebzeiten des Propheten (s.a.w.s.) noch nicht gab. Und deshalb können wir sagen: Die Hingabe an Gott beruht auf fünf Dinge: dem Bekenntnis, dem Gebet, dem Fasten, der Reinigungsabgabe und der Pilgerfahrt. Um die Hingabe zu erreichen, führen wir Handlungen aus, denn durch die Handlungen machen wir Erfahrungen und lernen und können somit weiter wachsen.

Die Möglichkeit zur Hingabe gehört auch zu den Geschenken, die Gott uns gegeben hat.

Der Weg zur Hingabe führt über die fünf Handlungen und er steht jedem offen. Wir brauchen keinen Mittler, wir brauchen weiter keine „Zugangsvoraussetzungen“, unser Streben ist ausreichend.

Im Islam kennt man nicht den Begriff der Erbsünde, Sünde wohl. Damit ist der Zustand des von sich selbst Entferntseins beschrieben. Solche Zustände können sich allerdings durch das Verhalten auf die Kinder übertragen, bis schließlich so etwas wie eine „Familienkrankheit“ entsteht. Aber auch dies ist durch den immer wieder möglichen Akt der Hinwendung im geistigen Sinne lösbar.

Die Schönheit des Islam liegt für uns auch darin, dass er dem Menschen innere Freude und Heiterkeit schenkt.

wa-nahnu aqrabu ilai-hi min habli-l-warîd

„….Und Wir sind ihm näher als seine Halsschlagader.“ (Sure 50/16)

Hier können wir lesen, wie nahe uns Gott immer ist. Die tatsächliche Entfernung zwischen uns und Gott ist also weniger als die Dicke eines Blattes. Was zwischen uns steht sind die Vor-Stellungen, die Be-Fürchtungen und unsere Mein-ungen.

Mit dem Adâb kann der Mensch seinen eigenen ursprünglichen Zustand wieder erreichen, all die schönen Eigenschaften, die in ihm angelegt sind, wieder zur Wirkung bringen.

Der Weg dahin kann wie folgt in Stufen gegangen werden:

Muslim ist ein Seinszustand, keine Zugehörigkeit, es ist der, der sich ergeben hat.

Nach dem Muslim kommt die Stufe des Mu’min, das ist der Seinszustand des sicheren Wissens, aus den Handlungen, die zur Hingabe führen, ist aus der Erfahrung die Gewissheit geworden.

Und wer diesen Weg weiter geht, kann den Seinszustand des Muhsîn des gereinigten, vollkommenen Menschen erlangen.

Nichtbefolgen des Adâbes bringt den Menschen in den Zustand von Selbstvergessenheit, im Qur’ân steht, dass der Mensch vergesslich ist. Ein Beispiel sei genannt:

wa-laqad ‚ahidnâ ilâ âdama min qablu fa-nasiya wa-lam nağğid la hu ‚azman

Wahrlich wir schlossen einen Bund mit Adam zuvor, aber er vergaß; Wir fanden in ihm jedoch keine böse Absicht (20/115)

Als Zusammenfassung können wir sagen – der Adâb schafft die Plattform des ahlaq, des sich Veränderns, sich Bildens, durch den ahlaq, gelangen wir zur „klaren Ausrichtung“, durch die Ausrichtung, zu unserem wahren Wesenskern, der Fitra, in diesem Zustand erneuern wir den zuvor erwähnten Bund, den Gott mit Adam, und somit mit der ganzen Menschheit geschlossen hat.

Damit schliesst sich der Kreis, der Mensch hat die Gelegenheit in die Gegenwart Gottes zurückzukehren und er nimmt sie wahr. Aus dem „Tier-Mensch“ wird trotz seiner Körperlichkeit ein vergeistigtes Wesen, in der Körperlichkeit nach wie vor vergänglich, und dennoch lebt er in einem inneren paradiesischen Zustand.

Möglicherweise meinte Gott dies, als Er zu den Engeln sagte. „Ich weiss, was Ihr nicht wisst.“

 

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